Der Umgelernte
Majestät belieben die zum Familienabend ins Schloss geladenen Kinder freudig, nahe zu euphorisch zu begrüßen. Was man zunächst als außerordentlich gute Laune aufgrund des Familienfestes fehlinterpretiert, entpuppt sich bald als Freude über einen Meilenstein im Pfad der Erkenntnisse Ihrer Durchlaucht. Hoheit eröffnen noch während des Aperitifs der versammelten Menge: wir wissen jetzt, wir sind ein Genie!
Madame kennt die nun folgenden Sätze auswendig, da von Majestät täglich wiederholt seit Ihro Genialität jene Epiphanie hatte, aber die Kinder wissen von dieser lebensverändernden Einsicht noch nichts. Das erhoffte staunende Schweigen tritt ein und Majestät holen aus. Wir, selbstreflektiert und weise wie wir nunmal sind, haben ja schon immer gewusst, dass etwas mit uns nicht stimmt, dass wir, naja, wie sollen wir das formulieren, ein bisschen verquer sind.
Das staunende Schweigen geht in betretenes Schweigen über, aber gerne lauscht man den hoheitlichen Worten. Nun, Majestät haben unlängst gelesen: Menschen, die als Linkshänder geboren, aber danach zum Rechtshänder - man möchte fast sagen: mit Gewalt! - umgelernt worden sind, weisen offenbar - alle, ohne Ausnahme und bestimmt wissenschaftlich bewiesen - besondere Eigenschaften auf, die da wären: Ordnungsliebe bis zur Verzweiflung, sprunghafte Gedankengänge, eine nahezu unleserliche Klaue und - jetzt kommt's - ein großartiges, wenn auch meist verborgenes Genie. Da durchlauchtigste Selbstreflektiertheit an sich selbst eine nahezu fatale Ordnungsliebe, eine zugegeben eher ungelenke Schrift und nicht immer ganz fassbare Eingebungen festgestellt hat, muss jeder intelligente Mensch nun attestieren, dass a) Hoheit ein geborener Links- und umgelernter Rechtshänder und b) daher ein verkanntes Wunderkind sind.
Ein Kind wagt kritisches Hinterfragen: die wirren Gedankengänge und die Ordnungsliebe könnten doch durchaus auch auf den eher leicht neurotischen königlichen Charakter zurückzuführen sein und die krakelige Schrift mag daher kommen, dass Majestät seit der Schulzeit nicht mehr wirklich viel mit dem Stifte zu Papier gebracht haben wollen. Ob das Wunderkind denn seine noch lebende Mutter diesbezüglich ausgefragt habe, schließlich müsste diese doch noch am ehesten wissen, ob sie dem jungen König einst das Linkshändertum abgewöhnt hat.
Majestät sichtlich verwirrt ob dieses Einwurfs. Schmähstad, sozusagen. Madame, die ganze Zeit über mit einem Schmunzeln lauschend, antwortet an Hoheits statt: Ja, sie persönlich habe die Königsmutter befragt und diese habe geantwortet, sie wisse nichts davon, dass ihr Spross jemals die linke Hand für Stift, Messer oder Steinschleuder gebraucht hätte.
Majestät winken ab. Was wisse denn die schon, die Mutter ist doch nicht mehr zurechnungsfähig, das war eine tiefe seelische Versetzung an ihrem Sohne, die hat sie gewiss verdrängt. Der Hofstaat möge sich doch bitte nicht mit der alten Schachtel befassen, sondern mit der Tatsache, dass Majestät ein verfluchtes Genie sind!
Gut,
der Abend schreitet fort, Madame möchte wissen, wie's den
Kindern
denn so geht, ein Kind fängt an, von Leben und Beruf zu
erzählen,
da war was lustiges, haha, da habe ich Bücher umstellen
müssen,
weil...
Kind
kommt genau einen Satz weit, denn Majestät wirft, nach wie vor
ganz
aufgeregt, ein: Apropos! Bücher umstellen! Majestät hat auch
sein
Leben lang gerne Bücher umgestellt. Ganz klar ein Indiz für
einen
umgelernten Linkshänder! Es ist erwiesen: wir sind ein Genie!
Hofstaat bemüht sich um Fortführung eines noch nicht mal begonnen Tischgesprächs, aber für den Rest des Abend muss dann eingesehen werden: Majestät sind ein Genie und darüber gilt es nun zu philosophieren. Überraschenderweise hat der Abend dann nicht lange gedauert, aber dafür waren nun alle im Bilde über die Eigenschaften eines umgelernten Linkshänders.
Aus der königlichen Pathologie:
Selbstwahrnehmung: Niemand kann besser beschriebene Charakterzüge auf sich beziehen, als jener, der keinen echten Charakter hat. Jede (positive) Klassifizierung von Charakteren gilt ihm als Spiegel, in dem er sich sonnt. Wäre eigentlich die Grundlage für ein witziges soziales Experiment...
Selbstdarstellung: Sobald ein Thema gefunden ist, mit dem wir im Mittelpunkt stehen können, wird es ausgereizt. Ob, dass oder wann es dem Publikum zu viel wird, kann der Narzisst nicht wahrnehmen.